26. Mai 2018

Rezension: "Olga" von Bernhard Schlink



Titel: Olga
Autor: Bernhard Schlink
Verlag: diogenes
Preis: 20,99€
Seiten: 320


Zu Beginn des Jahres habe ich meine Freude gegenüber dem Programm des diogenes-Verlags entdeckt. Bereits im letzten Jahr las ich den Klassiker „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink, weshalb ich mich über sein neues Buch mit dem Titel „Olga“ sehr freute. Als Geschichtslehrerin begrüße ich Gegenwartsliteratur mit historischem Zwischenspiel sehr. Doch Schlink widmet sich keinesfalls nur einem Zwischenspiel, die deutsche Geschichte tritt in diesem besonderen und interessanten Roman als eine Art Nebenfigur selbst auf und katapultiert den Leser somit in einen großen Teil der deutschen Geschichte selbst zurück. „Olga“ ist ein bewegender, interessanter und tiefschichtiger Roman über eine starke Frau, die in Zeiten lebte, die bis heute nicht für jeden erfassbar sind.

Die Geschichte der Liebe zwischen einer Frau, die gegen die Vorurteile ihrer Zeit kämpft, und einem Mann, der sich mit afrikanischen und arktischen Eskapaden an die Träume seiner Zeit von Größe und Macht verliert. Erst im Scheitern wird er mit der Realität konfrontiert – wie viele seines Volks und seiner Zeit. Die Frau bleibt ihm ihr Leben lang verbunden, in Gedanken, Briefen und einem großen Aufbegehren.

Bernhard Schlink ist ein großer Name der deutschen Gegenwartsliteratur und das auch zurecht. Sein Roman „Der Vorleser“ überraschte mich maßlos und deswegen waren auch meine Erwartungen an „Olga“ nicht gering. 
Was zunächst auffällt ist die relativ distanzierte Erzählart des Autors. Bernhard Schlink versucht nicht seine Figuren in einem guten Licht darzustellen. Man soll gar nicht mit ihnen sympathisieren. Gerade ihre Schwächen, die mehr als deutlich gezeichnet werden, sorgen aber für Identifikation. Dies trifft in jedem Fall auf die Titelfigur Olga zu. Olgas Geschichte wird in drei Teilen erzählt, die alle eine andere Art des Erzählens haben. Der Roman beginnt sehr unmittelbar, man wird direkt in das Geschehen gezogen und dem Leser wird die Kindheit von Olga in wenigen Sätzen präsentiert. Schlink setzt dabei keinerlei Wert darauf, Emotionen beim Leser hervorzurufen. Im Gegenteil, die Erzählweise suggeriert Neutralität, vielleicht sogar Objektivität und Distanz. Der Leser soll sie seine Meinung über Olga im Laufe des Romans selbst bilden, was auch wunderbar funktioniert. Der Autor findet sehr schnell zum Hauptthema des Buches, nämlich die Beziehung zwischen Olga und Herbert.
Wobei man sagen muss, dass diese untypische Liebesgeschichte eigentlich nur eine Stellvertreterrolle für die angegebene historische Zeit ist. Denn Schlink erzählt eigentlich zwei Geschichten und macht die erste am Beispiel der zweiten deutlich. Soll heißen: Schlink hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein Bild der brisanten deutschen Geschichte zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem endenden 20. Jahrhundert darzustellen. Und um diese Zeit zu verstehen, bettet er die Geschichte einer Frau ein, die alle Höhen und Tiefen miterlebt. Dabei werden epochale und weltverändernde Phasen, wie etwa der Nationalsozialismus, beinahe ausgespart und eher am Rande erwähnt. Denn für Olga ist das eine schmerzliche Phase. Die Präsenz der Zeit ist aber immer allgegenwärtig und beeinflusst Olga in ihrem Lebensweg. Es geht um die Zeit. Aber um diese zu verstehen, wurde Olga erschaffen. An ihrem Beispiel wird das Schicksal einer Generation deutlich und dieses Schicksal ist mehr als bewegend, weil grausam. Dieses Grundgerüst ist meiner Meinung nach grandios gelungen und konnte mich begeistern. Das Cover mit der scheinbar einsamen und nachdenken Frau passt dementsprechend hundertprozentig zur Geschichte. Mir gefiel die Komponente der Geschichte selbst als Hauptfigur wirklich gut!
Aber genug der interpretatorischen Worte. Das Buch ist sehr gut aufgebaut, denn es ist in drei ungleiche Teile unterteilt. Der erste Teil handelt von Olga und Herbert selbst: ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre beginnende Liebe, der Schmerz des Schicksals. Beiden ist es vergönnt aufgrund ständischer Gegebenheiten zusammen zu sein. Herbert ist ein träumerischer Charakter, der ruhelos und suchend ist. Ich mochte ihn nicht. Doch Olga hat sich in diesen Mann verliebt und ihn bei all seinen Wolkenschlössern unterstützt, soweit dies möglich ist. Mir gefiel zwar Herberts Charakter nicht, seine Rolle ist aber bedeutend und gut gewählt. Dass Schlink sein Schicksal ausspart, ist eine interessante Wendung, die dem Leser Spielraum ermöglicht. Olga wird in diesem Teil des Buches hingegen sehr genau gezeichnet. Man bekommt einen guten Eindruck von der strebsamen jungen Frau, die eigentlich gar nicht in ihre Zeit passt. Auch Olga ist keine Sympathieträgerin, soll dies aber auch nie sein. Was sie aber unbestritten ist, ist authentisch. Und das ist für diesen Roman entscheidend. Bereits nach dem ersten Teil ist ein Großteil der Geschichte erzählt und die Perspektive wechselt. Der Autor deckt hierbei eine Zeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis ca. 1950 ab, was enorm ist. Kennt man sich mit Geschichte nicht so sehr aus, sollte man die Jahreszahlen und Ereignisse immer im Blick behalten, da man sonst schnell den Überblick verliert und nicht mehr weiß, in welcher Zeit sich das Buch gerade befindet. Hierbei sind die Sprünge manchmal auch sehr chaotisch, was das Verstehen des Romans erschwert. Wissen über deutsche Geschichte wird in gewissem Maße vorausgesetzt. 
Der zweite Teil des Romans wird von jemand vollkommen Neues erzählt. Seinen Namen erfährt der Leser erst auf den letzten Seiten. Es handelt sich um einen Sohn eines Pfarrers in dessen Familie Olga ab den 50ern als Näherin gearbeitet hat. Die Perspektive wird nun vollkommen verschoben, denn eine andere Generation erzählt. Dementsprechend ist die Sicht komplett umgedreht, etwas rebellischer, etwas jünger. Olgas zweiter Lebensabschnitt nach den beiden Weltkriegen wird aufgezeigt. Es ist für den Leser nahezu ein Mysterium, was ein einzelner Mensch in diesen Jahren alles erlebt haben kann. Wie grausam muss es in dieser Zeit gewesen zu sein, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg miterlebt zu haben, die verschiedenen Systeme und das fragile Nachkriegssystem. Und in all diesem großen Ganzen musste man sich zurecht finden: eine nahezu unlösbare Aufgabe – in meinen Augen. Der zweite Teil verliert ein wenig an Spannung, doch erzählt er sehr gut. Interessant ist vor allem, dass aufgezeigt wird, wie ein Mensch aus verschiedenen Perspektiven ganz anders wirken kann.
Der dritte Teil besteht dann lediglich aus Briefen. Briefe, geschrieben von Olga an Herbert. Der anfangs anonyme Erzähler beschafft diese und durch die Briefe wird das bisher erworbene Wissen über Olga noch einmal deutlich revidiert. Schlink meistert es bravourös, die Botschaften seines Romans immer wieder umzukehren und zu verändern. Er lässt verschiedene Figuren auf den Plan treten, um die ganz große Geschichte, die er erzählen will, zu erschaffen – und das gelingt. Der Briefteil gefiel mir inhaltlich sehr gut, ist aber ebenfalls wenig abwechslungsreich. Hier spricht aber zum ersten Mal Olga selbst, was wiederum interessant ist.
Der Schreibstil von Bernhard Schlink bleibt den ganzen Roman über distanziert. Es ist nicht die spannendste Art zu schreiben, doch diese Beschreibungen machen den Roman wirklich interessant. Die Aufgliederung in die drei Teile ist sehr klug und sorgt für Abwechslung. Man lernt die Protagonistin aus immer wieder neuen Blickwinkeln kennen, was sehr gelungen ist und Authentizität schafft. Was mir die meiste Zeit fehlte war Sympathie und Identifikation. Aber ich glaube auch nicht, dass diese beiden Faktoren vom Autor gewollt wären. Was Schlink aber schafft, ist eine tolle und interessante, manchmal sogar abgrundtiefe und geheimnisvolle Geschichte einer Frau zu erschaffen, die in die wahren Verstrickungen der Geschichte hervorragend eingearbeitet wurde. Man darf aber nicht vergessen, dass der Roman daher relativ ernst und nicht immer spannend oder schön zu lesen ist. Aber er ist ein Erlebnis – ein Erlebnis eines Teils der deutschen Geschichte.


„Olga“ ist ein Roman mit viel Anspruch, der Geschichtskenntnis benötigt, aber auch erschafft. Bernhard Schlink schreibt mit seiner distanzierten Art keine Sympathiegeschichte einer tollen Protagonistin nieder, sondern eine ernste und authentische Geschichte einer Frau, die in den historischen Tücken der deutschen Geschichte leben muss. Hierbei spielt die Liebe immer eine Rolle, denn sie definiert Olga. Vielmehr bewundere ich aber die Geschichte selbst, die die größte Nebenrolle spielt. „Olga“ ist nicht unbedingt ein unglaublich spannendes Buch, aber ein ernster und anregender Roman, der jeden Geschichtsinteressierten in seinen Bann ziehen kann. Ich vergebe vier Spitzenschuhe für diese interessante und abwechslungsreiche Lektüre.




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