Titel: Tess
Autor: Thomas Hardy
Verlag: dtv
Preis: 9,90€
Seiten: 592
Ich bin eine Leserin mit anspruchsvollen Idealen – die
natürlich niemals erreicht werden können. Dennoch zählt in diese Kategorie auch
das Kennen diverser Klassiker. Ich kann Klassikern sehr viel abgewinnen und
lese die meisten gern! Der Schreibstil und das Setting entstammen anderen
Zeiten und man begibt sich auf eine kleine Reise, voller alter Werte und
Normen. Gesellschaftsvorstellungen die heute mehr als veraltet sind, sind in
diesen Büchern aktuell und allein zu beobachten, wie die Protagonisten sich in
solchen Zeiten schlagen, ist überaus interessant.
Ein Klassiker, der schon lange auf meiner Leseliste stand, war „Tess“ von
Thomas Hardy. Viel wusste ich über dieses Werk nicht, mal abgesehen von seiner
Berühmtheit. Aber die schöne Ausgabe des dtv-Verlags zog mich schon vor Jahren
an und wie so oft dachte ich: „Ein Klassiker. Den muss ich dann ja wohl
kennen!“ Und deswegen stürzte ich mich in die Geschichte von Tess d’Urberville.
Doch obwohl es viele Stellen gab, die mich fesseln konnten und ich die Genialität
Hardys zum Teil begreifen kann, beinhaltet die Geschichte für mich zu viele
unnötige Längen. Es handelt sich um die Geschichte einer Frau mit Aufs und Abs,
die man kaum greifen kann. Tess ist faszinierend! Aber auch eine geisterhafte
Frauenfigur…Und trotzdem werde ich sie einfach nicht mehr los!
Durch Zufall erfährt die in ärmlichen Verhältnissen lebende
Tess Durbeyfield, dass ihre Familie einem alten normannischen Adelsgeschlecht
entstammt. Ihr Entschluss, vermeintliche Verwandte zu besuchen, hat fatale
Folgen für die junge Frau: Sie trifft auf die zwei Männer, die den Gang ihres
Schicksals unheilvoll lenken.
Der Klappentext gibt nicht viel her und auch deswegen hatte
ich wenige Erwartungen an das Buch. Grundsätzlich gehe ich immer mit einem
positiven Gefühl an Klassiker und so auch dieses Mal. Mich interessierte die
Geschichte von Tess, auch wenn ich gar nicht wusste, was diese besonders machen
sollte. Aber obwohl ich lange Zeit im Dunkeln tappte, ist die Geschichte von
Tess d’Urberville tatsächlich etwas Besonderes. Wie bei so vielen Klassikern,
gibt es keinen so richtigen Höhepunkt, da es sich eher um einen
Entwicklungsroman handelt. Der Leser begleitet Tess über viele Jahre, durchlebt
viele Lebenststationen und nimmt jedes Schicksal mit.
Tess ist zu Beginn des Buches eine naive Landschönheit, die blauäugig durchs
Leben geht. Sie ist ein bisschen eitel, aber dennoch gebildet für ein
Bauernmädchen, doch sie macht eine starke Entwicklung durch. Leider ist sie mit einem verschwenderischen und eingebildeten Vater
gestraft, der immer der Meinung ist, die Gesellschaft schulde ihm etwas. Obwohl
ihre Mutter eine herzlichere Figur ist, muss sie für die sechs Kinder sorgen
und gibt diese Aufgabe kurzerhand an Tess ab – in gewisser Weise. Denn
natürlich versucht die Familie Profit aus Tess‘ Schönheit zu schlagen, was der
jungen Frau schmeichelt. Man kann sich das nicht vorstellen, wie bei „Stolz und
Vorurteil“, wo Mrs. Bennet ihre Töchter reich verheiraten will. Die d’Urbervilles
haben kein Geld, sondern leben als Bauern auf dem Land. Tess wird nun aber zu „Verwandten“
geschickt und trifft dort den jungen und charmanten Alec d’Urberville. Doch er
ist alles andere als ein Gentleman und mit ihm beginnt Tess Untergang. Ich
möchte hier nicht spoilern und würde meine Zusammenfassung eigentlich an dieser
Stelle abbrechen, wenn da nicht noch der vorher erwähnte zweite Mann wäre, den
ich noch erwähnen muss. Alec d’Urberville nimmt eine wichtige Rolle in Tess
Leben ein, doch bald schon ist er kein Teil mehr davon. Jahre später trifft
Tess auf einem Milchhof auf den reizenden Angel Clare. Er ist Pfarrerssohn,
aber ein Nichtsnutz. Statt einer kirchlichen Karriere schlägt er den Weg eines
Landmannes ein und lernt deswegen auf diversen Höfen das Handwerk. Tess und Angel verlieben
sich und heiraten. Doch wie man an diesem wunderbaren Namen schon erkennen
kann, ist Angel Clare nicht der Engel, für den man ihn halten kann. Wenn man
dachte, dass es für Tess bereits bergab geht, dann steigert der Roman sich nun
noch um ein Vielfaches. Das Buch wird zur reinsten Tragödie und Leidenszeit.
Das Ende hat mich dann vollkommen überrumpelt. Dachte ich doch, ich wüsste, was
passiert, wenn Tess mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird – so lag ich doch
vollkommen falsch. Und ich ertappte mich dabei, wie ich meine eigenen
Moralvorstellungen hinterfragte. Denn all das hat „Tess“ mit mir gemacht. Aber
ich schweife ab. Nochmal.
Die Handlung ist ein bisschen verworren und relativ skandalös für das Ende des
19. Jahrhunderts. Selbst ich musste bei manchen Entwicklungen schlucken. An
anderen Stellen schüttelte ich den Kopf über die Prüderie dieser Zeit. Und dann
tat mir Tess wahnsinnig leid. Der originale Untertitel des Buches lautet „Eine
reine Frau“, was wirklich bemerkenswert ist. Denn Tess‘ Geschichte ist alles
andere als rein. Und dennoch hat sie nie wissentlich Schuld auf sich geladen,
sondern handelte zumeist sehr edel. Das Ende klammere ich hier mal aus. Hätte
die fiktive Tess in der heutigen Zeit gelebt, wäre ihre Geschichte nicht einmal
eine Fußnote wert gewesen, weil sie viel zu normal wäre. Zumindest trifft dies
auf den ersten Teil der Geschichte zu. Tess ist Opfer männlicher
viktorianischer Machenschaften, die den Nachteil des weiblichen Geschlechts in
dieser Zeit stark verdeutlichen! Man könnte ewig über die Geschichte und den
Verlauf von Tess‘ Leben diskutieren und ich bin sicher, die Diskussion wäre
sehr ertragreich. Es macht mir Spaß, über diesen Roman zu schreiben – aber das
Lesen hat nicht immer Spaß gemacht. Und das lag an den Längen, die dieser
beinhaltet. Denn sowohl die Handlungsidee, deren Verlauf und die Figuren
gefielen mir sehr gut. Betrachte ich die Geschichte von Tess im Nachhinein,
finde ich sie sogar spannend. Über die Figuren könnte ich ellenlange
Interpretationen schreiben, da sie alle so interessant sind. Und auch der
Schreibstil hat etwas Angenehmes. Ich mag den ausholenden Stil des späten 19.
Jahrhunderts und Thomas Hardys Stil ist durchaus geschliffen, bildreich und
intelligent. Aber er ist auch langatmig. An diesem Roman wurde schon immer das
Beschreiben der Landschaft und das gezeichnete Gesellschaftsbild im Umbruch der
Industrialisierung gelobt – ehrenwerte Symbole, todeslangweilige Längen für den
heutigen Leser. Die Landschaftsbeschreibungen ziehen sich über viel, viele Seiten.
Und auch, wenn man einen hervorragenden Eindruck von der damaligen Gesellschaft
und ihren Vorstellungen bekommt, ebenso wie einen Querschnitt durch eben diese
Gesellschaft, fordert dies doch arg die Geduld des Lesers. Ich hatte
zwischendurch einfach keine Lust auf das Buch, lagen doch wieder nur ewige
Feld- und Wegbeschreibungen vor mir. Und das machte mir das Lesen schwer.
Dennoch verbirgt sich unter dieser Gesellschaftsstudie eine atemberaubende
Geschichte mit faszinierenden Charakteren. Tatsächlich begriff ich erst nach
dem Lesen, dass ich mehr mit Tess gelitten hatte, als ich zunächst annahm. Sie
ist eine bemerkenswerte Figur, denn irgendwie fehlte mir trotz ihres
Protagonistenseins der Zugang zu ihr. Die Geschichte handelt von ihr, sie ist
die Heldin und tragische Figur und dennoch lernt man sie nie wirklich kennen.
Ihre abgöttische Liebe zu Angel Clare soll ihr Leben bestimmen. Doch obwohl sie
sich absolut unterwirft, bleibt sie auf gewisse Weise stark. Als ich das letzte
Kapitel las, konnte ich nicht fassen, was der Autor mir antut. Insgesamt konnte
ich die letzten Kapitel des Romans kaum begreifen, gibt es doch einen
vollkommen unerwartet Storyturn. An diesem sind auch die beiden wichtigen
Herren Alec d’Uberville und Angel Clare beteiligt. Angel ist bei seinem
Auftauchen ein sehr sympathischer Jungspund. Doch seine Entwicklung ist
grauenhaft und egoistisch. Alec hingegen ist anfangs ein Schurke, wie er im
Buche steht. Er macht später eine 180° Wende durch, nimmt die Rolle des
gnädigen Patronen ein, nur um wieder zum Verführer zu werden. Sein Werdegang
ist mehrere Blicke wert, aber dafür ist hier kein Platz. Diese drei sind das
Lesen der Geschichte durchaus wert. Denn nach dem Lesen verstehe ich viele
Literaturanspielungen auf diesen Roman sehr viel besser.
Trotz all seiner Unterhaltsamkeit bleibt das Lesen aber eher Arbeit, als Genuss.
Beim Lesen hatte ich nur selten so interessante Gedanken, wie nun danach.
Tatsächlich hat mir der Roman erst im Nachhinein gezeigt, was er alles
beinhaltet. In diesem Zusammenhang lohnt sich das Nachwort von Dorothee Birke
wirklich sehr! Ich verstand Hardys Stil und Botschaft viel deutlicher und war
auch ein bisschen enttäuscht, dass ich nicht von selbst auf gewissen
Zusammenhänge kam. Aber Hardy hat tatsächlich auch ein Talent fürs
Verschleiern. Die wichtigsten Handlungsszenen geschehen in Nebensätzen,
Aussparungen oder Abkürzungen. Das letzte Kapitel ist das perfekte Beispiel.
Ich habe jetzt bereits sehr viel über dieses Buch geschrieben, ohne dass man
vielleicht einen Eindruck über die Geschichte bekommt. Aber tatsächlich ist das
auch schwer. Es passiert wenig und in Bezug auf Tess einfach wahnsinnig viel.
Skandalöses, Liebevolles und Tragisches. Ihr Leben ist ein einziges Drama und
deswegen musste ich als Leserin mein Herz an sie verlieren. Und das, obwohl
gerade das moralisch hinterfragbar ist. Vielleicht regt euch mein Kauderwelsch
zu diesem Buch ja an, es ebenfalls zu lesen. Wenn ja: Ich habe wahnsinnig viel
Diskussionsbedarf!
Das erste was ich nach dem Schließen des Buches tat, war den
Kopf zu schütteln. Das Ende, ja die gesamte Handlung, hat mich schockiert. Doch
umso mehr Zeit verging, desto interessanter fand ich die Geschichte und ihren
Verlauf. „Tess“ ist eine schicksalsträchtige Geschichte über eine „reine“ Frau,
der schlecht mitgespielt wird und die Opfer ihrer eigenen Taten wird. Man
sollte dieses Buch als Gesamtwerk betrachten. Nicht einzelne Figuren oder
Handlungsabschnitte machen es zu dem, was es ist – es ist das Gesamtspiel aller
Faktoren. Zu diesen Faktoren gehört aber auch das träge Beschreiben von Land
und Leuten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ich muss ehrlich sein: Ich habe
das Buch selten gern gelesen. Aber es hat mir im Nachhinein viel bedeutet und
deswegen vergebe ich 4 Spitzenschuhe. Demnächst werde ich mir ganz sicher den
Film von Roman Polanski ansehen. Ich bin gespannt, wie er „Tess“ dargestellt
hat und ob seine Version der meinen nahe kommt.
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