20. Oktober 2018

Rezension [Klassiker]: "Lieber Daddy Long Legs" von Jean Webster



Titel: Lieber Daddy Long Legs
Autor: Jean Webster
Verlag: Königskinder Verlag
Preis: 18,99€
Seiten: 258

Die wunderschöne Aufmachung des Romans „Lieber Daddy Long Legs“ von Jean Webster aus dem Königskinder Verlag stand schon lange auf meiner Wunschliste. Ich gebe zu, dass das Cover und die verspielte Art entscheidende Gründe für den Wunsch waren, doch auch der Klappentext klang sehr schön. Und als ich das dünne Büchlein dann endlich Mein nennen konnte, begann ich schnell mit dem Lesen. Vielleicht zu schnell. Denn für diese besondere und liebevolle Geschichte sollte man sich mehr Zeit, als nur einen Tag, nehmen. Denn dann kann die wundervolle und starke Protagonistin Judy sich erst richtig entfalten und zieht den Leser in ihre Welt. Schließlich beinhaltet ein einseitiger Briefroman eine gewisse Monotonie, auch wenn Jean Webster dieses Problem ganz wundervoll gelöst hat, indem man dennoch den Eindruck eines Dialogs hat. Mich hat der Roman wunderbar unterhalten, auch wenn das große Geheimnis schnell durchschaubar ist. Er ist perfekt für ein paar süße Stunden, doch nehmt euch auch bewusst Zeit dafür!

Fast 18 Jahre hat Judy Abbott im Waisenhaus gelebt. Wegen ihrer literarischen Begabung wird sie nun von einem geheimnisvollen Wohltäter aufs College geschickt. Der Mann möchte namenlos bleiben, Judy soll ihm aber jeden Monat einen Brief über ihre Fortschritte schreiben. Voller Begeisterung stürzt sich Judy in dieses unbekannte Leben. Mehr als einmal im Monat schreibt sie „Mr Smith“, denn sie hat ja sonst niemanden auf der Welt, mit dem sie ihre Erlebnisse teilen kann. Briefe voller Witz, über Hüte und Literatur, über neue Freundschaften und immer öfter auch über den sympathischen Jervis Pendleton.

Zuerst muss ich einen beschämenden Fakt zugeben. Ich bin ein großer Liebhaber von Klassikern und ich wusste nicht, dass „Lieber Daddy Long Legs“ genau ein solcher ist. Ich hielt Jean Webster für eine zeitgenössische Autorin und war begeistern von dem authentischen Zeitgeist, den sie in dem Roman einfängt. Erst nach dem Lesen erfuhr ich, dass der Königskinder Verlag hier ein Werk von 1912 neu verlegt hatte. Und plötzlich machte so vieles Sinn! Ich habe die Geschichte auch so sehr genossen, doch mit dieser Hintergrundinformation kann man Judys Charakter einfach viel besser verstehen. Das Jahr, in dem das Buch spielt, wird nicht genau genannt, denn die Briefe sind lediglich bis zum Monat datiert. Trotzdem ist mir mein Fehler ziemlich peinlich. Also: Wir haben es mit einem Klassiker zu tun.
Und einem sehr dünnen dazu. Die Autorin hat meines Erachtens eine besondere Geschichte erschaffen. Man kennt Briefromane, auch einseitige Briefromane. Doch selten ist eine Frau die Autorin von solchen und schon das allein macht das Buch interessant. 
Der Einstieg gelang mir sehr gut. Er erfolgt in Form eines normalen Kapitels, in dem über Judys bisheriges Leben im Waisenhaus berichtet wird. Und dann kommt der Tag, an dem sich alles ändert und sie erfährt, dass sie auf die Universität gehen darf! Wohl gemerkt, eine Universität nur für Frauen. Doch was für ein Schritt in ein neues Leben! Judy – eigentlich Jerusha – ergreift ihre Chance und beginnt mit dem Ziel eine große Schriftstellerin zu werden, das Studium. Von nun an erfährt der Leser nur noch etwas über Judy, ihre Freunde und ihre Erfahrungen in Form von Briefen – Briefe an den mysteriösen Mr. Daddy Long Legs. Judy hat ihren Gönner selbst so benannt, denn sie sah ihn nur ein einziges Mal von hinten und alles, was sie noch weiß, sind seine langen Beine. 
Wie man an diesem Spitznamen schon merken kann, ist Judy eine sehr selbstbewusste und humorvolle junge Frau. Um viele Konventionen weiß sie einfach nicht, doch sie ist eine ehrliche Haut. Und da sie nie eine Antwort von Daddy Long Legs erwarten muss, schreibt sie genau das, was sie denkt und was sie bewegt. Judys Briefe sind so authentisch und herzergreifend, dass man sich vollkommen in ihnen verlieren will. Man hat es immer nur mit ihr als Erzählerin zu tun und wird gleichzeitig zum neutralen Beobachter ihres Lebens. Zwar bekommt der Leser lediglich Informationen von ihr und über sie, doch trotzdem stellt sich ein Gefühl ein, als wäre man dabei. Die Briefe sind nicht alle weltbewegend spannend, aber die meisten sind wahnsinnig amüsant. Man liest das Buch mit einem kleinen Schmunzeln im Gesicht. Manchmal liegen viele Wochen zwischen den Briefen, manchmal nur wenige Tage. Das gewählte Medium finde ich absolut großartig und Judys Art Briefe zu schreiben, hat etwas Künstlerisches. Und dennoch ist der Stil recht simpel, wenn man sich einmal an die Tonart des frühen 20. Jahrhunderts gewöhnt hat. Ich fand ihn einfach nur großartig, weil er so humorvoll und bildlich erzählend ist. Judy fertigt übrigens auch kleine Zeichnungen zu ihren Briefen an, die ebenfalls im Buch abgedruckt sind.
Judys Leben plätschert manchmal nur so dahin und sie ist selbst auf der Suche. Allerdings kann man von Anfang bis Ende eine interessante Entwicklung der Figur wahrnehmen. In Nebensträngen spielen auch die Themen Politik, Feminismus und Familie eine Rolle. Schließlich muss Judy über etwas schreiben. Und worüber soll man an jemand Fremdes schreiben, wenn nicht über sich und seine Ansichten? Tatsächlich hat man aber nie das Gefühl, als wenn Daddy Long Legs jemand Fremdes ist. Und natürlich ist es Ziel des Buches, zu erfahren, wer sich hinter diesem Synonym versteckt. Es ist übrigens auch nicht so, dass Daddy nie handelt. Er schreibt keine Antwortbriefe. Doch er beschenkt Judy etwa zu Weihnachten, schickt Blumen, wenn sie krank ist oder organisiert ihre Feriendomizile. So entsteht doch ein gewisser und humorvoller Austausch. Doch das große Geheimnis, wer denn nun der geheime Gönner ist, ist schnell erkannt. Auch, weil es wenige Alternativen gibt. Und dennoch gefiel mir die Auflösung außerordentlich gut. 
Es gibt nicht viele Figuren im Roman, schließlich handelt es sich um eine große Sammlung von Briefen. Judy ist eine großartige Protagonistin: stark, selbstbewusst, humorvoll, politisch orientiert und dennoch kritisch mit sich und der Welt. Daddy Long Legs scheint jemand zu sein, der die Fäden gern in der Hand hält und dennoch hat er etwas Liebevolles an sich. Judys Freundinnen spielen keine allzu große Rolle, sind aber nette Nebenfiguren. Doch insgesamt geht es um eine einseitige Beziehung, die sich nach und nach entwickelt. Das Ende des Romans passt sehr gut und ist ein toller Abschluss. Ich habe das Buch an nur einem Tag gelesen und mit einem Lächeln zugeklappt. 
Diesen einen Tag will ich aber nicht unbedingt empfehlen. Man sollte sich mehr Zeit für Judys Briefe nehmen, da man sie sonst nicht richtig genießen kann. Irgendwann wird es zu viel, zu gleich. Ich habe zwischendurch immer kleine Pausen machen müssen. Schließlich beinhaltet der Roman mehrere Jahre. Und wenn diese binnen weniger Stunden an einem vorbei ziehen, kann der Bezug fehlen. Aber auch so bleibt der Roman sehr kurzweilig. Er bietet allerdings tolle Unterhaltung!


Ich habe die Geschichte von der ersten Seite an geliebt! Ich bewundere Judy, ihre Art das Leben zu sehen und ihre Eigenschaft so ehrlich mit sich und der Welt ins Gericht zu gehen. Die Gefühle, die durch die Briefe der jungen Frau hervorgerufen werden, sind bezaubernd! Judy entführt den Leser mit einfachen Briefen in ihr Leben und lässt ihn mitleiden und mithoffen. Der Briefroman ist trotz seiner Einseitigkeit wundervoll und sehr unterhaltsam. Der Humor in jedem einzelnen Brief ist fantastisch und ich hatte viel Spaß mit Judy und Daddy Long Legs. Lediglich die Einfachheit des Geheimnisses lässt mich etwas an meiner Bewertung abziehen und so komme ich auf 4,5 von 5 Spitzenschuhen. Der Roman hat einen wundervollen Inhalt und wen das nicht überzeugt – die Aufmachung ist auch einfach überragend!



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