23. Juli 2017

Rezension: "Der Vorleser" von Bernhard Schlink


Titel: Der Vorleser
Autor: Bernhard Schlink
Verlag: Diogenes
Preis: 10,00€
Seiten: 207

Ich gehöre zu einem Jahrgang, der um den Roman „Der Vorleser“ während seiner Schulzeit herum kam. Bei mir waren Kleist und Ibsen Programm. Nicht aber Bernhard Schlink. Durch mein Studium bin ich allerdings ein großer Klassiker-Fan und kaufte mir das berühmte Buch deswegen für mein Regal. Ich muss zugeben, dass ich nicht den blassesten Schimmer hatte, was das eigentliche Thema des Buches ist. Ich las es einfach ohne große Erwartungen. Und deshalb bin ich im Nachhinein positiv überrascht. Schlinks Stil war für mich zwar nichts Großartiges, seine Geschichte allerdings wirklich besonders. Sie macht eine 180° Wendung und konnte mich so abholen. Ich erkenne viele Gründe, dieses Buch zur berechtigten Schullektüre zu machen.


Sie ist reizbar, rätselhaft und viel älter als er … und sie wird seine erste Leidenschaft. Sie hütet verzweifelt ein Geheimnis. Eines Tages ist sie spurlos verschwunden. Erst Jahre später sieht er sie wieder. Die fast kriminalistische Erforschung einer sonderbaren Liebe und bedrängenden Vergangenheit.


"Es ist dünn. Es klingt ganz nett. Es passt zu einer Challenge." Das waren meine Gedanken, als ich zu „Der Vorleser“ griff. Ich dachte mir, dass ich das Buch schon fix durchhaben würde. Viel mit dem Inhalt anfangen konnte ich allerdings zuerst nicht. Erst auf Seite 76 wird zum ersten Mal vorgelesen. Ich fragte mich also schon, in welche Richtung Schlink seine sonderbare Geschichte wohl wenden würde. Was passiert bis dahin? Ein 15-Jähriger beginnt für eine ältere Frau zu schwärmen, verliebt sich in sie, ja wird in gewisser Weise abhängig. Die beiden verbringen viel Zeit miteinander, teilen jedes Mal das Bett und dennoch bleibt die Beziehung merkwürdig. Mal ganz abgesehen von dem Umstand, einen 15-Järhigen mit einer Mittdreißigerin als Liebespaar zu betrachten. Es beginnt sich ein Ritual zu entwickeln – Michael beginnt Hannah vorzulesen. Eine romantische Vorstellung. Doch von einem Tag auf den anderen verschwindet Hannah und so bricht Michaels halbes Leben zusammen. Er lebt einfach weiter, entwickelt sich weiter und trifft Hannah eines Tages wieder. In einer Gerichtsverhandlung. 
Achtung Spoiler. 
Ich komme um das Thema nicht herum, wenn ich „Der Vorleser“ wirklich beurteilen möchte: Der Nationalsozialismus. Hannah steht vor Gericht, weil sie Aufseherin in einem Außenlager von Auschwitz war. Erst vor ein paar Wochen habe ich das KZ in Polen besucht. Daher berührte mich das Thema sehr. Und Schlink nahm einen absoluten Plottwist vor. Was mit einer sonderbaren Geschichte beginnt, wird zu einer drastischen Nachkriegserzählung. Wie normal muss es in den 50er und 60er Jahren gewesen sein?! Es ist so wichtig, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, was mit den Leuten eigentlich geschah, die aktiv während des NS tätig waren! Nur, weil Hitler gestorben ist und die Nationalsozialisten besiegt wurden, änderte nicht jeder Mensch sein Denken. Wie hätte man das auch von einen auf den anderen Tag verarbeiten sollen?
Was Schlink ganz hervorragend schafft, ist die Authentizität, mit der er seine Charaktere ausstattet. Hannah ist eine interessante Figur. Sie ist sehr stolz und eigensinnig. Sie sieht ihre Fehler nicht und versucht dennoch ein gerechter Mensch zu sein. Sie hat ein großes Geheimnis für das sie sich schämt. Michael kommt hinter dieses Geheimnis und ich fand es so berührend, wie sich die Beziehung der beiden dadurch wandelt. Das Buch ist in drei Teile verfasst. Der dritte Teil berührte mich wirklich sehr. Er zeigt deutlich, was Michael für ein guter Kerl ist und dennoch führt er einem vor Augen, wie sehr dieser Junge in seiner Jugend durch die Beziehung gelitten hat. Es ist nicht die interessante Beziehung zwischen Hannah und Michael oder der Storyturn. Es ist auch nicht die Abnormalität des Geschehens oder die authentischen Beschreibungen des Autors. Es ist sein Talent, dieses schwere Thema zu verpacken, was dieses Buch so bemerkenswert macht. Einen besonderen Draht zur Historizität legen. Der Leser wird in einen Sog gezogen und kann sich die Dinge vorstellen, kann Begriffe füllen und Dinge verarbeiten. Ich finde den gewählten Weg wirklich großartig! 
Da ich selbst Geschichte studiert habe, empfinde ich solche Werke als sehr künstlerisch und ziehe meinen Hut vor Schlink für diese Geschichte. Mit einem Zitat sprach er etwas aus, das ich sofort unterschreiben würde. Ja, womit man sogar jede Geschichtsstunde beschreiben kann:
„Geschichte treiben heißt Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen und beide Ufer beobachten und an beiden tätig werden.“ (S. 172)

Wie ich schon sagte, es ist die Mischung und das gekonnte auf den Punkt-Bringen, das diese Geschichte zu einem so guten Buch macht. Zwischenzeitlich ist das Buch alles andere als spannend, sondern eher befremdlich. Aber auch das ist sicher gewollt. Vor allem zu Beginn plätschert Vieles vor sich hin und es dauert, bis die Geschichte sich aufbaut. Dennoch finde ich das Konzept gelungen. Man hat es mit einer sehr ungewöhnlichen Geschichte zu tun – von Anfang bis Ende. Das Ende machte mich sehr traurig und obwohl es auch tragisch ist, passt es wirklich gut zur Geschichte. Beide Hauptcharaktere sind keine Helden oder Identfikationspersonen. Man beobachtet sie eher aus der Ferne. Aber das genügt. Man beobachtet genug, um etwas für sich selbst und das eigene Verständnis mitzunehmen. Und genau deswegen wird es auch in der Schule gelesen. Ich freue mich darauf, später Klassen mit Hilfe dieser Geschichte zu unterrichten, auch da sie meine beiden Fächer optimal vereint. Danke, Bernhard Schlink.



„Der Vorleser“ wird nie mein Lieblingsbuch sein und dennoch hat es mich fasziniert und gelehrt. Das große Thema, das hinter der Geschichte steht, ist sehr wichtig und die Betrachtung davon ist hier sehr gelungen. Es ist in ein kleines Thema eingebettet und auch dieses kann überzeugen. Ich spreche in Rätseln? Dann löst das Rätsel und lest das Buch selbst. Ich vergebe vier Spitzenschuhe.



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